Spenderorganmangel: Deutsche Herzgesellschaften und Herzstiftung befürworten eine erneute Diskussion zur Widerspruchslösung

Strukturelle Verbesserungen im Transplantationswesen für Organspende zusätzlich zur Widerspruchslösung dringend notwendig

(Frankfurt a. M., 6. Februar 2023) Der deutliche Rückgang der Zahl der Organspenden im Jahr 2022 zeigt: Beim Spenderorganmangel ist in Deutschland kein Ende in Sicht. Alarmiert von diesem negativen Trend mit dramatischen Auswirkungen für die betroffenen schwer kranken Patientinnen und Patienten, darunter auch Kinder, sehen die Deutsche Herzstiftung und Deutschlands herzmedizinische Fachgesellschaften dringlichen Handlungsbedarf. Sie befürworten daher eine erneute Diskussion über die Einführung der Widerspruchslösung, wie von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zuletzt gefordert. Deutschlands herzmedizinische Fachgesellschaften sind die Deutsche Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie (DGTHG), die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung (DGK) und die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie und Angeborene Herzfehler (DGPK).

Ein erster Anlauf pro Widerspruchslösung war im Januar 2020 gescheitert und führte zur erweiterten Zustimmungslösung. Dazu gehörte ein Online-Register zur Dokumentation der Organspendebereitschaft (aktuell auf 2024 verschoben). Seitdem hat sich die Organspendesituation nicht verbessert, eher noch verschlechtert: Die enorme Kluft zwischen der Zahl schwer kranker Menschen auf den Wartelisten für ein Spenderorgan und den verfügbaren Organen für eine Transplantation ist noch größer geworden, wie die aktuellen Organspendezahlen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) (1) zeigen. Dass sich die Situation verbessern könnte, ist nicht abzusehen. Nach DSO-Angaben sind die Organspenden im Jahr 2022 um 6,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken. Mit den 2.795 nach postmortaler Spende übertragenen Organen konnte zwar 2.695 schwer kranken Patientinnen und Patienten eine bessere Lebensqualität oder sogar ein Weiterleben ermöglicht werden, so die DSO. Allerdings warten 8.500 Menschen in Deutschland auf ein Spenderorgan. Auch die Zahl der Spenderherzen bewegt sich weiterhin auf einem sehr niedrigen Niveau, sie stieg nur wenig spürbar um 0,6 Prozent von 310 postmortal gespendeten Herzen (2021) auf 312 im Jahr 2022 an. Nur mit Hilfe von weiteren 46 Spenderherzen aus dem Ausland – wohlgemerkt alles Länder mit Widerspruchslösung – konnte die Zahl der transplantierten Herzen auf insgesamt 358 Herzen erhöht werden.

Lage für Patientinnen und Patienten „hoch dramatisch“

„Die Lage ist hoch dramatisch“, warnt Herzchirurg Prof. Dr. Andreas Böning, Präsident der DGTHG. Den 358 Herztransplantationen im Jahr 2022 stehen deutschlandweit mehr als 700 schwer herzkranke Menschen auf den Wartelisten gegenüber, die dringend ein Spenderherz benötigen. „Wir sehen daher besorgt auf den eklatanten, anhaltenden Organspendemangel“, erklärt der Präsident der DGTHG, die bereits eigene Organspende-Kampagnen initiiert hat. Die Widerspruchslösung wäre eine wichtige Maßnahme, um die Zahl der Spenderorgane deutlich zu erhöhen und damit jenen Menschen zu helfen, die dringlich auf ein Spenderherz warten, betont Böning.

Die Fachgesellschaften für Herzchirurgie (DGTHG), für Kardiologie (DGK) und Pädiatrische Kardiologie und Angeborene Herzfehler (DGPK) sprechen sich daher – auch als Verfasser des Positionspapiers zu einer Nationalen Herz-Kreislauf-Strategie für eine bessere Versorgung von Patientinnen und Patienten und innovative Forschung in Deutschland (NHKS) (2) – klar für eine Widerspruchslösung aus. „Wir befürworten den Anlauf des Bundesgesundheitsministers für eine erneute Abstimmung des Bundestags über die Einführung der Widerspruchslösung in Deutschland mit dem Ziel, die Zahl der Spenderorgane zu erhöhen“, betont der Kardiologe Prof. Dr. Stephan Baldus, Präsident der DGK. Die Deutsche Herzstiftung als Patientenvertretung der Herz-Kreislauf-Medizin unterstützt sämtliche Anstrengungen der kardiologischen und herzchirurgischen Fachgesellschaften, die zu einer Verbesserung der Organspendezahlen in Deutschland beitragen. „Nur mit ausreichend verfügbaren Spenderherzen können wir Patientinnen und Patienten mit schwer geschädigtem Herzen eine Perspektive geben“, sagt Prof. Dr. Thomas Voigtländer, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Herzstiftung. Dies gilt auch für die 21 zusätzlich auf der Warteliste befindlichen Kinder (Alter 0 bis 15 Jahre) für ein Spenderherz. 42 Herzen konnten bei Kindern im Jahr 2022 transplantiert werden. „Es braucht daher auch für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit schweren Herzmuskelerkrankungen zwingend die Widerspruchslösung“, fordert der Kinderkardiologe Prof. Dr. Matthias Gorenflo, Präsident der DGPK. Die Widerspruchslösung gilt in 20 europäischen Ländern.

Das Widerspruchs-Prinzip besagt: Wer eine Organspende nicht ausdrücklich verweigert, steht als Spender grundsätzlich zur Verfügung, wobei die Angehörigen ein Veto einlegen können.

Die häufigsten Ursachen und Indikationen für eine Herztransplantation sind schwerwiegende Herzmuskelerkrankungen (Kardiomyopathien), die koronare Herzkrankheit (KHK), die Grundkrankheit des Herzinfarkts, und weitere chronische Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems wie Herzmuskelentzündung (Myokarditis). Hauptursachen für die Entwicklung einer schweren Herzinsuffizienz sind im Kindes-, Jugend- und jungen Erwachsenenalter (EMAH) ein Versagen des Herzmuskels im Endstadium (z. B. nach Herzmuskelentzündung, Kardiomyopathien) und komplexe angeborene Herzfehler im terminalen Herzkreislaufversagen. Für Patientinnen und Patienten mit schwerer Herzschwäche (Herzinsuffizienz) im Endstadium ist die Herztransplantation eines Spenderorgans Goldstandard.

Widerspruchslösung erfordert zugleich strukturelle Verbesserungen in der Transplantationsmedizin 

Damit sich die Organspendesituation in Deutschland verbessert, müssen mit Unterstützung der Politik im Transplantationswesen auch die logistischen Voraussetzungen für mehr Organverpflanzungen stimmen. „Die jetzige Situation des Krankenhauswesens ist insbesondere von Ressourcenknappheit auf den Intensivstationen geprägt. Die Transplantationsmedizin bindet enorme intensivmedizinische Kapazitäten“, betont Prof. Voigtländer. Der Kardiologe sieht politischen Handlungsbedarf besonders aufgrund der fehlenden Intensivpflegekräfte sowohl für erwachsene Patienten als auch auf den Kinderherz-Intensivstationen, wo auch eine dramatische Unterbesetzung der Pflegedienste zu beklagen ist. Diese personellen Engpässe besonders auf den Intensivstationen der Kliniken bestanden schon vor der Pandemie. SARS-CoV-2 verstärkte die Belastung auf den Intensivstationen mit Auswirkungen auch auf andere Klinikbereiche.

So zeigen auch die DSO-Zahlen, dass die Coronavirus-Pandemie und damit verbundene hohe Krankenstände beim Klinikpersonal „wesentlich zum starken Einbruch der Organspenden um 30 Prozent“ im ersten Quartal 2022 beigetragen haben. Zum anderen scheint die Realisierung von möglichen Organspenden dadurch erschwert zu werden, dass es den koordinierenden Stellen nicht immer gelingt, den Willen von Verstorbenen für oder gegen eine Organspende frühzeitig zu klären. Ein Problem, das die DSO für den Rückgang der Organspenden anführt: Es fehlt häufig an eindeutigen Einwilligungen der Verstorbenen. In 42 Prozent der Fälle kam eine Ablehnung etwa aufgrund des vermuteten Willens der Verstorbenen zustande. 35 Prozent der Ablehnungen hätten auf der Einschätzung der Angehörigen nach deren eigenen Wertvorstellungen beruht, die nicht unbedingt denen des Verstorbenen entsprachen. „Die Zahlen stehen sehr im Kontrast zu den hohen Zustimmungswerten in der Bevölkerung für das Thema Organspende“, gibt DGK-Präsident Baldus zu bedenken. Nach einer aktuellen Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) befürworten über 80 Prozent der Bundesbürger eine Organspende (3).

Machen Koordinatoren-Teams in Spaniens Kliniken den Unterschied?

Ein Blick auf die Situation in Spanien, das bei Organspenden seit Jahrzehnten weltweit an der Spitze steht, lässt darauf schließen, dass nicht allein die Widerspruchslösung, sondern vor allem auch effiziente Strukturen in der Organisation der Organspende hohe Organspendezahlen erst ermöglichen. Eine wichtige Säule des spanischen Systems bilden die eigens für den Transplantationsprozess geschaffenen „Koordinatoren“-Teams aus Ärzten und Pflegern in den Intensivstationen, die in engem Kontakt zur staatlichen Zentralbehörde für Transplantationen (ONT) stehen. Hier spielen Abläufe zwischen Koordinatoren-Teams auf den Intensivstationen, der zentralen Koordinierungsstelle und den Angehörigen der Patienten auf den Intensivstationen der Kliniken eine wichtige Rolle. Im Unterschied zu den spanischen Koordinatoren müssen Transplantationsbeauftragte in Deutschland ihre Aufgabe oft zusätzlich zu ihrer vollberuflichen ärztlichen Tätigkeit in der Klinik wahrnehmen mit viel bürokratischer Zusatzlast. Das erschwert ein effizientes Vorgehen bei der Realisierung einer Organspende. Nur durch die Kombination von verbesserten Abläufen im Krankenhaus und der Einführung einer Widerspruchslösung kann dem Organmangel effektiv begegnet werden.

Deutschland importiert Organe aus Ländern mit Widerspruchlösung

Dass im Jahr 2022 von den 358 in Deutschland transplantierten Herzen 46 Spenderherzen aus Ländern mit Widerspruchslösung importiert wurden, sehen die Verfasser der NHKS kritisch. Als „nicht hinnehmbar und ethisch problematisch“ bezeichnet DGTHG-Präsident Prof. Böning, dass in Deutschland Spenderorgane aus Ländern des Eurotransplant-Verbunds mit einer Widerspruchslösung wie Spanien, Belgien und Österreich akzeptiert werden, während hierzulande eine solche Lösung nicht eingeführt wurde. „Deutschland hat als einziges Mitgliedsland von Eurotransplant keine Widerspruchslösung.“

Herztransplantation die bessere Option als Herzersatzverfahren

Erfreulicherweise leben ca. 60 Prozent der Patienten 10 Jahre und länger nach einer Herztransplantation. Bis zu 30 Prozent leben auch nach 20 Jahren noch mit ihrem neuen Herzen. Dank stetig weiterentwickelter und innovativer Medikamente, vor allem Immunsuppressiva, verbessert sich das Langzeitüberleben der Herztransplantierten kontinuierlich. Für das komplexe menschliche Herz gibt es aktuell keinen kompletten Kunstherzersatz. Die sogenannten Kunstherzen (Total Artificial Hearts, TAH) sind noch im Frühstadium ihres Einsatzes beim Menschen, daher sind weder mittelfristige Erkenntnisse noch Langzeitergebnisse verfügbar. Auch die Transplantation eines tierischen Herzens (Xenotransplantation) ist zurzeit keine Alternative. Für Patienten auf der Warteliste für ein Spenderherz gibt es zwar bis zur Erholung des Herzmuskels oder zur Überbrückung bis zur Herztransplantation die Option eines Herzunterstützungssystems für die rechte, linke oder beide Herzkammern (RVAD, LVAD, BVAD). Die Lebenserwartung mit einem Spenderherz ist allerdings deutlich höher als mit dem häufigsten Herzunterstützungssystem LVAD. LVAD-Träger können zwar inzwischen auch recht gut mit ihrem künstlichen Pumpsystem leben. „Allerdings kann Patienten, bei denen beide Herzkammern geschädigt sind, nach wie vor nur eine Herztransplantation helfen“, so DGTHG-Präsident Böning.

(wi)

 

Literatur:

(1) Pressemitteilung der DSO „Organspendezahlen im vergangenen Jahr gesunken“:
https://dso.de/dso/presse/pressemitteilungen/Organspendezahlen%20im%20vergangenen%20Jahr%20gesunken/103

(2) Nationale Herz-Kreislauf-Strategie für eine bessere Versorgung von Patientinnen und Patienten und innovative Forschung in Deutschland (NHKS):
https://dgk.org/daten/nationale_herz-kreislauf-strategie-2021.pdf

(3) Befragung der BzgA zur Organ-/Gewebespende (2022):
https://www.organspende-info.de/mediathek/studien/
https://www.organspende-info.de/fileadmin/Organspende/05_Mediathek/04_Studien/BZgA_Infoblatt_Repraesentativbefragung_Organspende_2022.pdf

 

BZgA:
www.organspende-info.de

Ein Organspendeausweis der Deutschen Herzstiftung kann kostenfrei unter www.herzstiftung.de/organspendeausweis (E-Mail: presse@herzstiftung.de) angefordert werden.
Weitere Infos zur Organspende sind abrufbar unter www.herzstiftung.de und www.herzstiftung.de/podcasts

 

2023

Kontakt:
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